Donnerstag, 16. März 2017

»Wähle also das Leben!«

Wer ein bißchen bibelfest ist, weiß, daß dieser Imperativ gleichsam das Testament des Moses ist, welches er seinem Volk eindringlich ans Herz legt, bevor dieses ins Gelobte Land einzieht.

Ausführlicher heißt es:
»Hiermit lege ich dir heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor. Wenn du auf die Gebote des Herrn, deines Gottes, auf die ich dich heute verpflichte, hörst, indem du den Herrn, deinen Gott, liebst, auf seinen Wegen gehst und auf seine Gebote, Gesetze und Rechtsvorschriften achtest, dann wirst du leben und zahlreich werden und der Herr, dein Gott, wird dich in dem Land, in das du hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen, segnen. Wenn du aber dein Herz abwendest und nicht hörst, wenn du dich verführen läßt, dich vor anderen Göttern niederwirfst und ihnen dienst - heute erkläre ich euch: Dann werdet ihr ausgetilgt werden; ihr werdet nicht lange in dem Land leben, in das du jetzt über den Jordan hinüberziehst, um hineinzuziehen und es in Besitz zu nehmen. Den Himmel und die Erde rufe ich heute als Zeugen gegen euch an. Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen. Liebe den Herrn, deinen Gott, hör auf seine Stimme und halte dich an ihm fest; denn er ist dein Leben.«
(Deuteronomium 30,15–20)
»Wähle also das Leben!« Dieser Imperativ ist so etwas wie ein roter Faden in der gesamten Heiligen Schrift. Denn wer das Leben wählt, der wählt Gott. Schließlich ist Gott der Schöpfer des Lebens, und schließlich sagt Jesus im Neuen Testament in einer seiner berühmten ICH-BIN-Worte: »Ich bin das Leben.«

Davon ausgehend, läßt sich sagen: Die fundamentale Berufung eines jeden Menschen ist exakt das: Zu leben. Die erste Berufung ist nicht, Arzt zu sein oder Schauspieler oder Vater oder Dompteur oder Zuckerbäcker, sondern vielmehr ganz ursprünglich und ganz nackt: Zu leben. Und diese Berufung verbindet uns alle.

Man sollte meinen: Logisch! Denn alles andere ergibt sich ja daraus. Zu lieben (welch’ hehre Berufung) ist nur möglich, wenn derjenige, der da liebt, das Grundlegende tut: Die Tatsache anzunehmen, daß er am Leben ist und daß dieses sein Leben lebenswert und also kostbar ist.

Wenn man das einmal gründlich verstanden hat, und die Betonung liegt auf gründlich, dann versteht man mehr über die Misere der Jetztzeit.

Denn unser Heute ist geradezu davon gebrandmarkt, daß diese erste Berufung vergessen oder ignoriert oder bei Seite geschoben oder lächerlich gemacht oder mit Füßen getreten oder schlicht und ergreifend für null und nichtig erklärt wird. Die vielbeschworene bioethische Debatte gäbe es nicht, wenn wir die erste Berufung beherzigen würden.

Fragen Sie mal in einer gemütlichen Runde, was ein jeder für seine erste Berufung hält? Sie werden erstaunt sein, welche Antworten Ihnen präsentiert werden. Und man kann nahezu die Wette eingehen, daß niemand sagen wird: Ich will leben, das ist meine erste Berufung.

Oder: Was meinen Sie, warum in einer x-beliebigen europäischen Stadt die Mehrheit der Heranwachsenden stundenlang im Internet verbringt oder sich mehr und mehr daran gewöhnt, den Cannabis-Joint zu rauchen? Weil Surfen und Rauchen so spannend ist? – O nein, das ist nicht der Grund. Es ist weitaus ernster. Die erste Berufung, nämlich zu leben, diese Grundlage von allem ist schwer verwundet, und schwere Verwundungen tun weh und also flieht man sie. Und darüberhinaus, man hat die wunderbare erste Berufung vermutlich nie wirklich gelernt.
Früher wurde einem im humanistischen Gymnasium die profunde Weisheit vermittelt: Non scholae, sed vitae discimus (Nicht für die Schule, sondern für’s Leben lernen wir). Das Leben, darum ging’s.

Und heute?

Heute locken die virtuellen Welten. Ein Klick genügt. Und schon stirbt man im künstlichen Paradies, während das schöne, eigene Leben darauf wartet, gewählt zu werden.

Grafik:    https://unsplash.com/@slavromanov